Profile
Blog
Photos
Videos
Es ist Samstagmorgen der 1. Februar, - 15 Grad, ich sitze in meinem Zimmer Mitten im Zentrum Bischkeks und bereite mich langsam auf unser Zwischenseminar in Georgien vor, das übermorgen beginnen wird.
Für dieses Seminar muss ich die Person porträtieren, die mich während meiner letzten 6 Monate am meisten geprägt hat - seit langem versuche ich für diese Aufgabe eine Lösung zu finden.
Das fällt mir sehr schwer, denn erstens begegnete ich in dieser Zeit sehr vielen neuen Menschen und zweitens verfliegt jeder Tag derart schnell, dass ich gedanklich kaum dazu komme, all die Geschehen zu analysieren.
Doch beginnen wir am Anfang, meinem ersten Arbeitstag:
Ich betrete den Kindergarten und werde von meiner Chefin Rosa Ätsche und meinen sehr liebenswürdigen vier anderen Kolleginnen begrüßt. Es dauert nicht lange und ich werde auch ganz ohne vorhandene Russisch- oder Kirgisischkenntnisse komplett in das Team integriert; Nach nicht einmal 20 Minuten wird mir Jamila übergeben, ein vierjähriges Mädchen, das nach Komplikationen bei der Geburt an Sauerstoffunterversorgung und an den Folgen einer unerkannten Gehirnhautentzündung leidet.
Sie wird in diesem Moment das erste Mal von ihrer Mutter getrennt und da sie nicht sprechen kann, drückt sie ihre Wut und Verzweiflung damit aus sich selber zu schlagen, wie ein kleines Rumpelstilzchen zu strampeln, zu treten und zu schreien. Solche Anfälle wurden bis zu diesem Zeitpunkt mit Muttermilch, dem Handy, Keksen und Cola gestillt. Das Kind hat noch ganze zehn schwarze Zähne und fokussiert seine Augen nur auf die Colaflasche oder den flimmernden Bildschirm.
Da es mir - gerade frisch aus Deutschland angekommen - widerstrebt mich dieser Vorgehensweise anzupassen, versuche ich die Kleine mit allem Möglichen zu beschäftigen und sie normal zu füttern.Doch ohne Zucker, Handy, geschweige denn ohne ein Wort Russisch, mit dem ich mich behaupten könnte, bin ich aufgeschmissen. Ich habe nichts zu bieten. Nach dem ersten Mittagessen kommen mir die Tränen.
... Es war kein langer Weg. Nachdem ich Jamilas Mutter mit ihr spielen sah, und das fröhliche, lachende Kind hinter den blauen Flecken im Gesicht entdeckte, dass laute Geräusche liebt und nichts toller findet als in der Schaukel zu sitzen, begann ich die Liebe, welche ihre Mutter verspürte, nachzuempfinden. Und so kitschig und klischeehaft es klingen mag, das hat alles verändert.
Jamila und ich kommen heute sehr gut miteinander zurecht, sie hat sich an den Kindergarten gewöhnt, isst und trinkt normal und beginnt plötzlich richtige Freundschaften zu knüpfen. Sie ist zurzeit ganz verrückt nach kleinen Babys und will diese am liebsten tausend Mal küssen und in den Arm nehmen. Bald wird sie große Schwester. Ich habe einmal mehr verstanden, was es heißt, seinen nächsten zu lieben und was diese Liebe bewirken kann.
Nach meinem ersten Monat arbeiten und leben in Bischkek hatten sich meine Russischkenntnisse kaum verbessert. Das deprimierte mich sehr, da meine Erfahrung mit der spanischen Sprache eine ganz andere war. Ich beschloss vier Mal pro Woche nach der Arbeit Einzelunterricht zu nehmen und so kam es, dass meine Lehrerin Lena heute einen festen Platz in meinem Alltag einnimmt.
Lena ist eine aus Russland stammende Kirgisin, etwa 25 Jahre alt, herzensgut und frisch verheiratet. Sie ist Übersetzerin für deutsche und englische Texte und zusätzlich unterrichtet sie 7 von unseren deutschen Freiwilligen. Wir verbringen viele Abende gemeinsam, denn meist werden aus 60 Minuten Unterricht auch 90. Sie ist unglaublich ehrgeizig, vor allem mit sich selbst. Das beeindruckt mich sehr.
Da Lenas Fleiß und ihr Gutwille kein Ende kennen, mache ich das erste Mal in meinem Leben meist täglich meine Hausaufgaben, um sie nicht zu enttäuschen. Das ist wahrscheinlich für jeden der mich aus der Schule kennt unvorstellbar und auch ich selbst bin überrascht, dass ich mich auch mal nach 8 Stunden Arbeit, 2 Stunden Aikidotraining und 90 Minuten Unterricht noch um 11 Uhr abends daran mache russische Texte zu übersetzen, obwohl ich am nächsten Tag ein ähnlich volles Programm habe.
Eine weitere prägende Person, der ich in Kirgistan begegne, ist meine Aikidotrainerin.
Eine ungefähr 1,60 cm kleine, sehr zierliche Tatarin, um die 50 Jahre alt, mit einem langen, schwarzen, geflochtenen Zopf und einer unvorstellbaren Körperbeherrschung, die jeden 2 Meter-Klotz mit Leichtigkeit und Eleganz umlegen kann - wie aus einem japanischen Kampffilm eben.
Drei mal pro Woche gehe ich nun in weißen Kimono zu ihr ins Training und kann schon ein paar Griffe und Rollen. Besonders gefällt mir dabei, dass man dort mit sehr vielen verschiedenen Menschen jeder Altersstufe „kämpft", das Körpertraining und das Bisschen, was ich von der Philosophie des Aikidos bis jetzt verstanden habe.
Es hat nicht lange gedauert und schon ist mein Alltag hier ähnlich voll wie in Deutschland, die Wochenenden verbringe ich meistens damit mal auszuschlafen, wegzugehen, Freunde zu treffen, mich auf den Basaren rum zu treiben (mein absolutes, persönliches Paradies J ), raus aus der Stadt zu kommen (Schlitten- und Skifahren), mal zu den Pferden zu gehen oder ich nehme mir vor einfach nur zu lernen.
Nachdem ich mich in die Arbeitsstrukturen und Machtverhältnisse im Kindergarten einarbeitete und meine Mitfreiwillige Michaela aus Rosenheim kennen lernte, die unser Team wirklich bereichert, lernte ich den Jungen kennen, der mich wohl am meisten prägt.
Sein Name ist Suleiman, ein 6 jähriger, sehr aufgeweckter Junge, der seine Muskeln nicht kontrollieren kann. Der erste Tag für ihn alleine war schwierig, noch niemand konnte richtig mit ihm umgehen und er war sehr nervös. Dadurch kämpfte er mit seinen Krämpfen, so stark, dass wir wirklich körperliche Probleme hatten, ihm auf irgendeine Weise Essen zu geben. Für mich war es das erste Mal eine ausgeprägte Spastik zu erleben und ich erschreckte mich, als ich merkte, dass ich das Wort „Spast" zwar selten, doch eindeutig in meinem normalen Sprachvokabular verwendete.
Es dauerte nicht lange und Suleiman und ich begannen uns anzufreunden. Er kann „da" (ja) sagen, seine Lippen verformen, wenn er Durst hat und mit den Zähnen reiben, wenn er etwas nicht will. Außerdem hat er ein riesiges Lächeln und ein lautes Lachen, er ist ein richtiger Sultan, alle kleinen Mädchen sind in ihn verliebt J Obwohl seine Eltern hauptsächlich Kirgisisch mit ihm sprechen, versteht er mein Russisch mehr und mehr. Die Arbeit mit ihm ist körperlich zwar anstrengend, doch bereitet sie mir am meisten Freude, da er einfach so ein Strahlemann ist und sehr lässig mit vielen meiner Fehler umgeht. Nun bin ich für Jamila und Suleiman voll verantwortlich, es lohnt sich jeden Tag aufzustehen und in die Arbeit zu gehen.
Weit weg von Zuhause bemerke ich auch deutlicher, wie sehr mich meine Eltern geprägt haben. Zum Beispiel fällt es mir sehr leicht mit Fremden ins Gespräch zu kommen, dank der kommunikationsfreudigen Art, die meine Mama lebt. Außerdem kann ich meine Schlafdefizite immer und überall aufholen. Ganz wie mein Papa, schlafe ich einfach ein, egal wie angemessen es ist J
So viel zu einigen Personen, die mich geprägt haben und damit auch ein paar kleine Ausschnitte aus meinem derzeitigem Leben.
Mittlerweile hatte ich schon Besuch von einer meiner Reiterfreundinnen Svea, über den ich mich sehr gefreut habe. Und im Sommer wird uns ein Teil des „Winklerklans" mit eventueller Verstärkung von meiner Patentante Dagmar und ihrer Familie beehren. 12 Mann auf Kirgistantrip - das wird was!!
Außerdem bin ich schon drei Mal umgezogen. Doch das Umziehen hier ist recht unkompliziert. Da ich nur meine Koffer voll Kleidung besitze, lief alles ohne Probleme. Jetzt wohne ich im Zentrum Bischkeks mit einer sehr netten, kirgisischen Mitbewohnerin, die glücklicherweise fast ausschließlich Russisch mit mir spricht. Sie arbeitet in Kasachstan, deshalb kommen ihre Schwester und ihr Bruder oft vorbei. Zusammen mit meinen Gästen sind wir dann meist zu dritt, wir haben einen großen Balkon und ich freue mich schon wirklich auf den Sommer!
Ich hoffe Euer Jahr hat gut angefangen und freue mich wie immer über Rückmeldungen.
Alles Liebe und verschneite Grüße,
Eure Constanze / Conny
- comments
M+T Super, endlich mal ein Text von Constanze, der uns sehr berührt (Bärbel war so angetan, das sie uns gleich angerufen hat). Danke! Euch allen viel Spaß in Georgien wünschen Monika und Till