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Es ist ein goldener Herbsttag, ich sitze im Auto und beobachte, wie die bergige Landschaft an mir vorbeizieht und ich mich immer weiter vom Kern der Metropole entferne, für zwei Stunden fliegen die Kilometer dahin. Am Steuer sitzt Li Jian, ein gutmütiger Chinese, der versucht, uns die Eigenheiten Chinas zu erklären. Wir, das sind ich und Tanja, ein Mädchen, das in meinem Hostel wohnt und für die Firma ihres Vaters hier in Beijing arbeitet, zusammen mit Jian, der uns nun mit auf einen kleinen Ausflug nimmt.
Wir verlassen das Chaos der Autobahn, der Nebel hüllt die Berggipfel in weißen Dunst, und wir begeben uns in die frische Morgenluft, ein Aufstieg steht bevor. Noch hat die Sonne nicht genug Kraft, um zu wärmen, wohl aber, um die gelben und roten Blätter des Waldes zu beleuchten, in dem wir uns befinden. Vorbei an kleinen Hütten führt unser Weg zu steinigen Treppen, hunderte von Stufen rauben uns den Atem, den wir im Schatten der kargen Berge wiederfinden. In stillem Schnaufen geht es weiter und weiter hinauf, während der junge Tag an Wärme und Licht gewinnt.
Und dann erklimmen wir die letzte Stufe, und uns liegt eines der majestätischsten Bauwerke der Welt zu den schmerzenden Füßen. Die große Mauer der Ming Dynastie, die einst die Landesgrenze bildete, schmiegt sich an Bergkämme, sonnenbeleuchtetes graues Gestein schlängelt sich durch die Landschaft bis an den Horizont heran. Die Wachttürme in gleichmäßigen Abständen lassen das Gemäuer in der Entfernung wie eine Perlenkette aussehen, die Spitzen von Bergen krönt, aus der Nähe betrachtet sind sie hausgroße Festungen, die früher den Wächtern des Reichs der Mitte eine Schlafstätte waren. Herbstnebel lässt entfernte Mauerabschnitte surreal und blass erscheinen, die beschatteten grauen Steine erfreuen sich bester Tarnung in der rauhen Umgebung. Anders die sonnengefluteten Areale der Mauer, auf denen ich mit ehrfürchtiger Miene wandel, und mein staunender Entdeckergeist sich nicht sattsehen kann.
Hunderte von Jahren Arbeit und der Schweiß unzähliger Menschen stecken in der kilometerlangen Formation von Steinen, die sich vor mir ausbreitet. Unsere Route schlägt viele Haken, abwärts- und aufwärts Stufen unterschiedlichster Höhe erschweren den Weg, für uns wie damals für Eindringlinge. Jeder Wachtturm, jede Etappe, jeder Richtungswechsel bietet eine neue Sicht auf das unendlich scheinende Bauwerk. Ein Gefühl von Freiheit ergreift mich, es scheint fast ironisch auf dieser Festung des Schutzes, der Begrenzung. Einige Kilometer legen wir auf diesem ungewöhnlichen Wanderweg zurück, bevor wir uns von einer Seilbahn wieder zurück ins Tal und auf den Boden der Tatsachen bringen lassen. Dieser wahrlich majestätische Anblick wird wohl lang in meinem Gedächtnis haften bleiben, sowie das Gefühl der wohligen Erschöpfung in der Ruhe der Gondel, die über den Wald hinweggleitet.
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