Profile
Blog
Photos
Videos
Santiago de Chile, Chile
Santiago
Die Reise war lang und ermüdend. Dank des spontanen und großartigen Einsatzes von Schinna und Andrea, sind wir noch pünktlich am Flughafen angekommen, die Maschine wollte so früh wie möglich los - ein kurzes Tschüss, ein chaotischer Rucksack und schnellen Schrittes zum Gate. Ignoriert man das stetige Surren und Dröhnen des Windes und der Motoren, könnte man meinen, man säße auf dem Sofa. Wacklig wurde es auf beiden Flügen nur für wenige Minuten, aber das Flugzeug kämpfte sich tapfer durch Wind und Luftlöcher. Und ich habe die meiste Zeit geschlafen und gedöst, war doch auch unter den Passagieren merkwürdigerweise sonst kaum ein Laut zu hören. Es schien, als säße ich mitten unter 200 Alleinreisenden, die sich untereinander nichts zu sagen trauten. Meine Sitznachbarin war eine von ihnen, hatte bis auf den 10minuten Pizzasnack die 9einhalb Stunden Flug durchgehend die Augen geschlossen.
Die 9 Stunden in Atlanta waren die Längsten meiner Reise. Niemals bin ich (solang) gereist, mit so wenig Worten, mit so wenig Austausch. Einzig ein paar Deutsche erzählten mir von ihrem Trip durch Costa Rica. Mitten im Trubel, verwandelte ein schwarzer Pianist und Sänger den sonst vollautomatische Geisterflügel zur Attraktion der Imbisshalle. Alle US-Soul / Blues (?) - Klassiker von „My way", bis zu „Fly me to the moon" und „What a wonderful world" live und in einzigartiger Interpretation. Großartig:)
Atlanta ist merkwürdig für mich. Die Menschen sind merkwürdig. Auch wenn ich sowas eigentlich gar nicht sagen mag. Der Nationalstolz prangt von zahlreichen T-Shirts, die Mimiken und Gesten der US-Amerikaner erinnern mich ans Hollywood-Kino, an das, was mir bisher mein Bild von den USA prägte. Das Flughafenpersonal ist zu 99% schwarz. Interessant, merkwürdig, faszinierend zugleich, einmal der „Außenseiter" zu sein.
Knapp 11 Stunden später begann das schönste der ganzen Reise, der Landeanflug auf Santiago.
Zunächst sah ich nur Meer, bis wir über Antofagasta das Festland erreichten. Die ersten Sonnenstrahlen malten den trockenen Norden des Landes in eine märchenhafte Landschaft. Man sieht nichts außer Hügel, wüstenhafte Berge, rötlich braunes, gebrochenes Land. In den schönsten Kurven und Spitzen erzählte mir die Erde hier von den regelmäßigen Beben. Ich hatte das Gefühl, die Bewegungen der Erde spiegelten sich in den Formen der Steine wider.
Bin ich auch während der stillsten Stunden des Fluges noch so nervös und erwarte jeden Moment den Ausfall der Turbinen, so werde ich während des spektakulären Landeanfluges, mit all dem ein und ausfahren, Surren und Klacken von Tragfläche, Räder usw. zur Ruhe selbst.
Während man noch keinen Anflug von menschlichem Leben unter sich sieht - mal ganz abgesehen von den Spuren des Tagebaus in unbewohnter Landschaft - sinkt das Flugzeug so tief, dass man glaubt, die Bergspitzen mit dem ausgestreckten Arm berühren zu können. Santiago liegt in einer großen, von Bergen umgebenen Mulde.
Der Flughafen ist überraschend winzig. Schnell stand ich vor dem Fließband, entschied mich aber, auf Bruno zu warten, der laut Anzeige 15min nach mir landen sollte.
Vor den Türen warteten geduldig Brunos Eltern, Heddy und Bruno. Wie sie später erzählten, haben sie mich schon in zahlreichen Frauen gesehen, die vor mir aus dem Check-in (?)- Bereich kamen.
Ein auf Anhieb sehr sympathisches Pärchen!
Heut´ ist Mittwoch und wir sind bereits den fünften Tag in Santiago. Santiago hat auf den ersten Blick nichts Besonderes, ein paar schöne Plätze, ein paar alte Gebäude, aber am auffälligsten ist diechaotische Mischung von alt und neu, von schön und hässlich, von laut und leise, stilvoll und barbarisch. Und was Santiago für mich so besonders macht, ist, dass mich hier nichts überrascht, das die Stadt genau in das passt, was ich mir ohne große Bilder (rein emotional) darunter vorgestellt habe. Schwierig zu erklären, was mir hier geschieht. Aber bisher fühle ich mich einfach total wohl. In Santiago, in Chile, unter den Menschen.
Die Stadt ist für mich wie eine Mischung aus Madrid und Ecuador. Einerseits erinnert die Ordnung und die Größenordnung von den Dingen, den Straßen, Plätzen, Häusern, an Europa - doch das Chaos in den anderen Ecken der Stadt, die versteckten und (aus deutschen Augen) halbverdreckten Märkte beweisen, dass wir Ecuador doch deutlich näher als Madrid sind. Hier in Santiago haben die Menschen überwiegend eine etwas dunklere Hautfarbe, im Süden sei das anders, sagt Bruno. Dort wären sehr viel Weiße, mit wenig äußerlichem Unterschied zu mir. Hier könnte ich manchmal Ecuadorianer nicht vom Chilenen unterscheiden, wenngleich die indigene Bevölkerung hier nichtvertreten ist.
Die Architektur ist lustig, chaotisch und teils sehr kreativ. Nichts ist in einer Reihe, kein Haus gleicht dem Anderen. Direkt neben prunkvollen Kolonialhäusern, stehen die hässlichen Überbleibsel aus der Militärdiktatur. Daneben grüne, blaue, rote Häuschen, deren Putz abblättert, die schon fast (zumindest in meiner Fantasie und laut Brunos Berichten) ein kubanisches Flair versprühen.
Alles hier erzählt auf den ersten Blick von den großen Differenzen in der Bevölkerung. Vom vorhandenen großen Reichtum, der direkt neben der Armut lebt.
Verrückterweise sind die Preise kaum von europäischen zu unterscheiden. Vielleicht ungefähr auf spanischem Niveau. (Dort ists doch ein bißchen billiger, als in D, hab ich Recht?) Klar, Obst und Gemüse, wie auch Brot ist etwas günstiger. Doch viele Dinge sind ebenso teuer, wie z.B. Kleidung, Vieles auch um einiges teurer als in D, wie zum Beispiel Kaffee, auch Butter, Käse etc. Wobei der Kaffee zum Beispiel ja aus Südamerika kommt und nicht, wie bei uns, eine weite Anreise hat.
Das bei einem Mindestlohn von umgerechnet 300 Euro für eine 5-6 Tage Woche und ohne große sozialstaatliche Mechanismen. Schwierig... jetzt erklärt sich, warum Bruno den abgekühlten Kaffee bis zu 3mal wieder aufwärmt. Unsere deutschen Konsummuster sind hier nicht auslebbar. Zumindest nicht, wenn man keine europäischen Vorfahren hat und einem somit schon fast per se eine politisch oder ökonomisch relevante Position in die Wiege gelegt wurde.
In diesem Moment sitze ich in der warmen Herbstsonne auf unserer Schlafmatraze im Barrio (Viertel) San Miguel. Draußen hört man die Kinder schreien (in der Nähe ist eine Schule), irgendjemandscheint seinen Garten zu bearbeiten, Bruno ist in der Dusche und seine Mutter auf dem Weg in die Stadt. Santiago ist so unfassbar riesig (6 Millionen Einwohner), dass ich bisher nur einen Bruchteil sehen konnte. Wir wohnen in einem sehr schönen Viertel, keines der Reichenviertel hier, aber auch weit entfernt von den armen Poblaciónes (Armenviertel). Die Häuschen sind klein und alle in unterschiedlichen Farben geschmückt, jeder hat einen kleinen Garten, in dem zur Zeit immer noch zahlreiche Blumen blühen. Die Straßen sind gesäumt von Bäumen, die langsam ihre Blätter verlieren. (Zur gleichen Zeit habe ich die blühenden Bäume, die zum Leben erwachende Pflanzenwelt in Deutschland vor Augen... mmh.. die andere Seite der Erde)
Die wunderhübsche Wohnung, in der Claudia, Brunos Schwester, Brunos Eltern und wir zur Zeit wohnen, gehört einer Tante der Familie. Im Erdgeschoss wohnt Onkel und Familie, die die bettlegrige Großmutter pflegen.
Das Programm der letzten Tage war ganz schön voll. Ich habe schon einen großen Teil der Familie kennen lernen dürfen. Am Sonntag waren wir zum Grillen hier im Viertel eingeladen. . Heddys erster Ehemann (Sergio) ist zugleich einer der besten Freunde Brunos (also Bruno Senior), ihre ehemalige Schwiegermutter eine ihrer besten Freundinnen und eine wunderbare, winzig kleine strahlende Frau. Zwei von Brunos Schwester kommen aus dieser Ehe (Tania und Paulina), so war also auch Paulina samt Familie (eine Tochter und einen Sohn) beim Grillfest. Wir saßen im Garten, um uns ´rum immer wieder andere Katzen (hier leben viele Katzen und Hunde ohne Besitzer auf der Straße), und eine schwarze lebendige Hündin, die einem am liebsten das Essen vom Teller geklaut hätte. Eine tolle, herzliche Atmosphäre untereinander, die ich auch bei den anderen Familientreffen feststellen konnte. Alle freuen sich natürlich, Bruno wieder zu sehen und sind sehr sehr offen und freundlich mir gegenüber, wollen wir jedes unverstandene Wort direkt erklären, sind stets in Sorge, dass mir irgendetwas nicht passen oder schmecken könnte. Mit der Sprache klappt es hier übrigens prima, viel besser als in Ecuador. Vielleicht liegt das auch einfach an meinen weiter fortgeschrittenen Spanischkenntnissen. Das chilenische Spanisch klingt schön und ist mir leichter verständlich, aber natürlich klinke ich mich auch regelmäßig aus den schnellen Gesprächen aus, sonst platzt mir zum Ende des Tages der Kopf;)
Am Montag ging´s zum nächsten Familientreffen im Haus von Paulina. Um in dieses grüne und hübsche Viertel (La Florida) zu kommen, muss man die ganze Stadt durchqueren und ist sicherlich eine gute Stunde unterwegs. Paulina (44) und ihr Mann sind Schauspieler, Claudia (36, auch eine sehr nette Frau) ist Fotografin / Kamerafrau - die Fotos von den Theaterstücken, in denen Paulina mitspielte, sind faszinierend.. Wenn alle zusammen sitzen, wird oft und engagiert über den chilenischen Staat diskutiert, die Geschichte aufgerollt, aus alten Zeiten erzählt und die heutige Politik analysiert. Super spannend für mich, wenngleich auch sehr anstrengend den Gesprächen zu folgen. Jetzt weiß ich zumindest, warum Bruno beim Essen immer anfangen wollte, Gott und die Welt zu diskutieren und zu analysieren. ;) von seinen Eltern hat er eine Menge gelernt. Tolle Personen, wirklich unheimlich herzlich, bemüht, alle samt geben mir das Gefühl, hier willkommen und aufgenommen zu sein.
Gestern waren wir gemeinsam mit seinen Eltern und seiner Schwester Claudia in Valparaíso, einer berühmten Hafenstadt, ca. 90 Kilometer von Santiago entfernt. Die bunten Häuser sind in die Hügel gebaut (es gibt übrigens nur im Norden Chiles flaches Land). Alte Kastenfahrstühle (ähnlich wie in Paris) erleichtern den Einwohnern die Wege. Valpo ist eine Universitätsstadt und eines der kulturellen Zentren des Landes. Über die ganze Stadt verteilt, erzählen die Wandmalereien von Geschichte und Kunst des Landes. Valparaíso ist aber auch um einiges chaotischer und „südamerikanischer" als die Hauptstadt. Leider war das Wetter nicht so gut, fast ein bißchen kalt, aber ich habe natürlich trotzdem eine Menge Fotos gemacht, die ihr alle noch sehen werdet.
Heut´ ist unser letzter Tag in Santiago, den wirmal ganz entspannt angehen wollten.. Vielleicht schaffe ich es, mich mit Jo zu treffen - einer Bekannten aus Münster, die mit ihrem chilenischen Mann im Oktober hier her zog.
Morgen früh fahren wir dann Richtung Süden. Doch bevor wir nach Valdivia kommen, werden wir noch ein paar Nächte in einem kleinen Dorf im Mapuche-Gebiet, nahe der argentinischen Grenze übernachten. Alle sagen stets, der Süden wird mir sehr gefallen. Dessen bin ich mir auch sicher, doch auf das schlechte Herbstwetter habe ich trotzdem noch nicht wirklich Lust. Hier in Santiago sind´s immer noch an die 30Grad. Na, mal schaun. Ich bin offen für das, was kommt. Bisher fühle ich mich in diesem Land sehr wohl, vor allem auch mit Brunos Familie ist es sehr harmonisch und schön.
Ich werd´ heut´ mal schauen, ob ich auf unkomplizierte Weise einen neuen Blog eröffnen kann.. Dort zeige ich Euch auch ein paar erste Eindrücke von Santiago und Umgebung.
Ach, Gudula, mir fällt grad ein, wir waren vor 2 Tagen auf einem großen Friedhof hier und haben dort vor dem Grab von Allende und auch von Victor Jara gestanden. Während die Präsidentengrabstätte ein kalter, unemotionaler Klotz ist, ist das Grab Victor Jaras wohl das schönste, was ich je sah. Hier gibt es keine Friedhofsregeln, jeder gestaltet seine Gedenkstätte so, wie er möchte. Victor Jaras Grab ist unheimlich bunt, man sieht, das viele viele Menschen schon dort waren, wenngleich er erst vor einem Jahr hier noch einmal richtig, öffentlich beerdigt wurde. Jeder hat etwas von sich da gelassen, Gitarren, Bilder, Blumen, Armbänder, alle möglichen persönlichen Gegenstände zieren das Monument, erzählen von der Liebe des Volkes für ihren Helden und von der Fassungslosigkeit, mit der das Volk der Geschichte gegenüberstand und wohl auch noch gegenübersteht. Ich habe auch ein Armband dort gelassen. Ein faszinierendes, merkwürdiges, fast unheimliches Gefühl, wenn sich Realität und Imagination (des Gelesenen) vermischen.
- comments